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Amokort

Flink wirft sie den Regenmantel über ihren athletischen Körper. Der Anruf hat ihren Gemütszustand von einer Sekunde auf die andere umgekehrt. Von der lethargischen, nachdenklichen, ja nutzlos anmutenden Hausfrau zur aktiven, aufmerksamen, effizienten Ermittlerin. Wie sie ihre Figur dazu bringt, durchgehend seit Jahren durchtrainiert aussehen zu lassen ist mir ein Rätsel bei den unzähligen Stunden, die sie auf der Coach verbringt.

«Ich muss los.»
Meine Neugierde wird von meiner Mitbewohnerin meist nicht befriedigt. Kurz und knapp, wie ihr Haarschnitt, kommen ihre Antworten. Weil Nachhaken ihre Ungeduld steigert und ich ohnehin etwas gegen Langeweile brauche, versuche ich es mit einer Frage:
«Kann ich mit?»
«Es muss schnell gehen, ja. Schnüre die Schuhe im Aufzug, wir nehmen das Einsatzfahrzeug aus der Garage.» Ihre Züge sind mürrisch und freundlich zugleich. Niemals würde sie zugeben, dass ihr meine Gesellschaft mittlerweile guttut. Ich akzeptiere sie, wie sie ist. Dass dem so ist, ist bei ihr erst nach Jahren angekommen.
«Schon unterwegs.»
«Vergiss nicht: Ich werde dich wieder als Praktikantin vorstellen. Sonst verschliessen sie dich erneut vor Informationen, wie Menschen vor mir, wenn es um eine Beziehung geht.»
«Liegt daran, dass Du unnahbar wirkst!»
Damit lässt sie die Diskussion sein. Es ist ihr egal. Zwar gibt es Tage, an denen es anders ist und sie sich darüber wundert, warum sich verschiedenartige Menschen mehr Gedanken über ihre Nicht-Partnerschaften, oder Sexualität machen, als sie selbst, aber im Augenblick zählt ausschliesslich ihr Job. Das war bei jedem Fall schon so. Bis er gelöst war. Immer Vollgas durch. Mit allem, was dazugehört: schlaflose Nächte, literweise Kaffee.

    An der angegebenen Adresse angekommen, wird das Ausmass erst langsam klar: Eine riesen Absperrung, das gesamte Hochhaus ist für niemanden erreich- oder verlassbar. Die Spusi ist vor Ort, Streifenpolizistinnen sorgen dafür, dass deren Arbeit nicht behindert wird. Bis Vlora den Ort nicht exakt inspiziert haben wird, bleiben Leichen dort liegen, wo sie gefunden wurden. Ihr Assistent, mit dem sie vor ein paar Jahren ihre Anfangsschwierigkeiten gehabt hatte, kommt auf uns zu. Klar, dass so ein Schönling, dessen Freizeit darin besteht mit seinen wechselnden Partnerinnen sein fehlendes Selbstbewusstsein aufzupolieren, es schwierig findet mit einer Person auszukommen, die erst mal alles und jede neutral beurteilt.»Mann, hast du dich hergebeamt?»
«Dass deine Barbies länger für einen Orgasmus brauchen, als wir für die Strecke vom Mond auf die Erde ist schon klar.»
Sein Blick verrät, dass er solche Antworten eingehend gewöhnt ist:
«Kommen wir zur Sache.»
«Glatt mal etwas Sinnvolles aus deinem oft belutschten Mund.» Dabei grinst sie süffisant. Er verdreht die Augen. Nach jahrelangem Kampf hat er vor einigen Monaten aufgegeben. Er hatte der Welt erklären wollen, dass seine Vorgesetzte sexistisch sei, ja sogar ihn sexuell belästigen würde. Das mit den chauvinistischen Bemerkungen ist nicht zu leugnen. Dass Vlora damit aber begonnen hatte, um sich mit ihm auf die gleiche Stufe zu stellen, lässt er immer geflissentlich aus. Ihm war alles an ihr zuwider: Er konnte ihre burschikose Kurzhaarfrisur nicht ausstehen, nicht ihre bescheidene, schwarze Kleidung, die zu jeder Gelegenheit passt und ihr kantiges, selbstbewusstes Auftreten ebenfalls nicht. Sein, aus seiner Sicht gut gemeinter Rat, sie solle sich wenigstens eines schlichten Make-ups bedienen, quittierte sie mit dem Gegenvorschlag für ihn, sich doch einen plastischen Chirurgen zu suchen. Sie hat ihre Prinzipien. Sie will ihretwegen geliebt werden, möchte Lob nur für gute Arbeit, steht auf Wissenschaft und Fakten bei der Wahrheitsfindung und NICHT auf Behauptungen. Weder schätzt sie es, Belehrungen ausgesetzt zu sein, noch liegt ihr daran zu schulmeistern. Daher hat sie diese Strategie der spitzen Zunge entwickelt.
«Mit Nachdenken», schlussfolgert sie, «werden die kapieren, welche verquirrlte Scheisse sie labern.»

    «Die Toten haben nichts miteinander zu tun. Es ist aber auch kein typischer, unkontrollierter Amoklauf. Die Täterin scheint es auf diese Personen abgesehen zu haben. Übrigens 3 Frauen von 4.»
«Woher weisst du, dass es sich um eine Frau handelt?»
«Weiss ich nicht. Ich möchte mir nur deinen feministschen Vortrag sparen, indem ich das generische Maskulinum auslasse. Schliesslich kann ich ja nicht wissen, ob es ein Mann war.»
«Sie starrt ihn lange 3 Sekunden an und zieht dabei ihre linke Augenbraue nach oben. In ihrem Gesicht ist ein kaum vernehmbares Zucken eines Lächelns auszumachen:
»Wieder was dazugelernt! Du mauserst dich noch zu einem fähigen Kommissar! Nun musst Du nur mehr kapieren, dass es auch noch andere Worte für unsere Spezies gibt. Wie: Leute, Menschen, ... .» Mit einem derartigen Kompliment habe ich nicht gerechnet, reisse meine Augen weit auf.
«Bestimmt», schiesst es mir durch die Birne, «kommt etwas Böses nach.»
Nichts dergleichen. Das muss ich in meinem Kalender verzeichnen. An ein Lob aus ihrem Munde kann ich mich nicht erinnern. Schon gar nicht ihm gegenüber.
Weil offenbar auch er mit der Situation überfordert ist, bleibt er auf der Sachebene:
«Tatort Hochhaus. Eine Leiche befindet sich ausserhalb des Gebäudes, kaum eine Distanz von hier. Sie ist mit ihrem Hund spazieren gewesen. Wären die Tatzeiten nicht so nahe beieinander, würde wohl von unterschiedlichen Täterinnen ausgegangen. Zwar sind 2 Todesursachen gleich, nicht jedoch alle.»
«Aha.» Erwartungsvoll hebt sie ihre Augenbrauen. Sie musste ihn nicht auffordern, mit den bisher gesammelten Fakten fortzufahren. Er wusste, er würde unnötig ihre Ungeduld strapazieren.
«2 Personen wurden von ihren eigenen Hunden getötet. Eine Nachbarin hat ausgesagt, dass sie ihre Vierbeiner nicht im Griff gehabt hätten. Die Tiere sind bereits weggebracht worden. 2 wurden erstochen. Mit jeweils einem anderen Küchenmesser.»
Ihr Ausdruck beginnt abzuschweifen. Ihre bernsteinfarbenen, grossen Augen, welche ohne Schminke attraktiv sind, wenn man den oft stechenden Blick ignoriert, scheinen in eine ferne Welt zu starren:
«Hm. Mord im Affekt. Gelegenheitswaffen. Ähnlich wie bei einem Amoklauf.»
«Ja. Komische Sache. Keine Klischeekillerin. Eventuell musste der Herr sterben, weil er Zeuge war. Die anderen Frauen waren allein.»
Man kann an den Zuckungen in ihrem Gesicht erkennen, dass sie bemüht ist, seine voreiligen Schlüsse wieder aus ihrem Gedächtnis zu verbannen und einige Kombinationen im Geist durchspielt:
«Was haben die Frauen gemeinsam?»
«Naja. Erst mal wohnen sie alle in diesem Haus.»
«Bei 13 Stockwerken und 4 Wohnungen je Etage ist das wenig Eingrenzung.»
«Wir haben mit den Befragungen begonnen.»
«Lasst uns rein gehen. Oder nein: Schauen wir uns am Beginn das Gemetzel draussen an.»
Sie dackeln gemeinsam zum Gebüsch, hinter dem die Erste liegt. Dass dies eine Frau gewesen sein muss, ist alleinig an der Kleidung zu erkennen. Ihr Gesicht ist entstellt, blutig, blau-lila gefleckt. Dort wo einst die linke Wange war, klafft eine Fleischwunde, unter der der Wangenknochen etwas hervorblitzt. Es ist zu einer Herausforderung für die Kolleginnen geworden, sich die Fliegen vom Leib zu halten. In Vlora beginnt wieder dieses Gefühl Oberhand zu gewinnen. Das bekommt sie bei Tatortbesichtigungen. Es ist ein Rachegefühl, das unangenehm ist, sie nervös macht, den Hass in ihr steigert. Gleichzeitig ist es das, was nötig ist, um ihr den Drive für eine Aufklärung einzuhauchen. Der Verwesungsgeruch steht aus. Ein Geruch, wie er in einer unhygienischen Metzgerei vorzufinden ist, schwebt in der Luft. Der letzte Rest des Morgentaus, wie er im Spätsommer zu den frühen Tageszeiten zu finden ist, ist auf der Haut zu spüren. Feuchtigkeit, am Verdunsten mit aufgehenden Sonnenstrahlen.

Der Schauder ist zum Greifen nah und ihre Lippen werden trocken. Staubtrocken, sodass sich ein Eisengeschmack in ihrem Mund festsetzt. Ohne Worte gibt sie mit einem Kopfnicken in Richtung Hochhaus zu verstehen, dass sie hier raus will und sich einen Überblick über die Gesamtsituation verschaffen möchte.
»Im zwölften Stock finden wir das Paar. Im neunten und elften die  alleinstehenden Damen.»


Eine weitere Hündin, die ihre Besitzerin zerfleischt hat. Ein Auge liegt 20 cm vom Körper entfernt, die Ohren daneben. Blutbad. Ein grosses für 2 Leute. Das Messer direkt nebenan. Vom eigenen Küchenwerkzeug zu Tode gekommen. Gründlich war sie, die mordende Person. Die durchtrennte Achillessehne hinderte eine Ermordete zu flüchten. So konnte die Umbringende den Bauchraum für die Verblutung treffen. 
Sie verfällt in eine Art Trance: Die Augen, als würde sie gleich das Bewusstsein verlieren, zuckende Lider, flacher Atem. Wer sie nicht kennt, findet ihre Reaktionen unprofessionell. Diesen Zustand braucht sie, wie sie mir vor einiger Zeit erklärte. In ihrem Hirn, welches von Psychologinnen mit einem IQ von 180 beschrieben wird, rotiert es:
«Wer macht sowas? Wie kommen die Messer an diese Stelle? Warum ist so eine Täterin nicht noch in der Gegend? Will sie ein Statement abgeben? ... Rache ... Hass ... Affekt ... Gelegenheit ... bekannt ... .»

Ein weiterer Kollege, der schon einige Befragungen durch hat, kommt auf das 3er-Grüppchen zu:
«Der Abstand zwischen den Morden und der Meldung ist gering. Kaum jemand hat das Haus verlassen. Bisher konnten wir keine Zeuginnen für die Taten ausfindig machen, aber Leute, die beobachtet haben, wer wo ein- und aus ging.»
Der Assistent fährt ebenfalls fort mit seinen Ausführungen:
«Die Leichen», er räuspert sich:
«Also, als sie noch keine waren, müssen jeweils die Türen geöffnet haben, keine Einbruchspuren.  Wir müssen nach einer Person fahnden, die alle kannte.»
Vlora verdreht die Augen. Wie in Trance. Als würde sie im Inneren ihrer Augenlider die Lösung suchen. Dann schiesst es aus ihr heraus:
«Nicht sehr sportlich. Aber flink, spontan. Frau. Eine Nachbarin.»

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