Der Gestank von verfaultem Fleisch steigt mir in die Nase. Es ist süsslich und knapp oberhalb der Kehle verengt sich die Speiseröhre, während der gesamte Bauchraum verkrampft. Die Stirn schlägt
Falten, meine Schultern werden unkontrolliert hochgezogen. Kurz lässt das Würgegefühl nach, bevor es 2 Sekunden später wieder auftaucht. Dies wiederholt sich einige Male. Ich schliesse die Augen,
konzentriere mich darauf, zu entspannen, um mir das unangenehme Entleeren zu sparen. Es mischt sich verrottendes, gemischtes Gemüse dazu. Das mutet an wie ein Duft. Ich versuche, die Gerüche in
meinem Verstand zu separieren, um ihnen die Kraft zu nehmen, die ich brauche, um hier wegzukommen. Die Geräusche des beschäftigten Tages beginnen: fernes Brummen von Motoren, Rascheln von
Schlüsseln. Fahles Licht vernehme ich, als ich die Lider wieder aufschlage, was mich darüber informiert, dass sich die Erde seit letztem Morgen erneut um sich gedreht hat. Der Geschmack im Mund
ist bitter. Die Katzen schleichen herum und suchen nach Resten in den Mülleimern neben mir und an der gegenüberliegenden Wand. Wenn der Container zur Rechten in meine Richtung geschoben wird,
werde ich in dem Betonwinkel zerquetscht. Zum Glück hat das alte Ziegeldach ein paar Löcher, die mit dickem Plastik abgedeckt wurden, sodass ich unter tags etwas sehen kann. Eines der Fellknäuel
kauert sich direkt neben mich. Es ist dem Tod geweiht. Das Fell hat sie sich lange nicht geputzt, die Verletzung an ihrem rechten Vorderbein ist entzündet, an der offenen Bisswunde hinter ihrem
linken Ohr haben sich Maden zu schaffen gemacht. Einst muss sie schön gewesen sein: Tigermusterung in hellem Braun und Weiss sowie Schwarz. Ich stelle mir vor, wie sie rückseitig der Abfallsäcke,
die hier am Boden herumliegen, geboren wurde, um dann ein Bettelndes, immer dem Hungertod nahes Dasein zu fristen.
Es ist der siebte Tag hier. Eine gefühlte Ewigkeit. Hunger habe ich nicht. Nicht wirklich. Ein bisschen Auswahl wäre nett, eine Idee Regelmäßigkeit und mehr notwendige Nährstoffe. Im Gegensatz
zur Katze ist es mir möglich, mich optisch ein klein wenig über Wasser zu halten. Den Brunnen benütze ich, wenn alle weg sind, um den beissenden Körpergeruch loszuwerden, die weite Kleidung wird
von den gröbsten Flecken gereinigt. Die Falten, die das lange Kleid durch das nächtliche Liegen erleiden, glätten sich etwas, wenn der Stoff an meinem Körper herabhängend am Morgen trocknet. Ab
und zu freilich. Jeden Tag ist mir das zu kalt, obwohl es hier schnell aufwärmt. In der Nacht wird es mit 10 Grad nicht frischer als draussen. Nur die Luftfeuchtigkeit erhöht sich, weil kein Wind
sie hier wegfegt, was zu Schimmelgerüchen führt. Mein Kopftuch, welches manchmal als Halstuch dient, ist an einer Seite pink gefärbt, auf der anderen dunkel. Es enthält chinesische Muster und
wird als Tarnung benutzt. Die beschäftigten Leute hier scheren sich nicht um die Menschen um sich, sodass es ihnen nicht auffällt, dass die Person mit dem schwarzen Kopftuch des einen Tages die
gleiche ist, wie jene mit dem pink-schwarzen krawattenförmig gebundenen Schal am anderen. So schaffe ich es, neben den Essständen von den Tischen die Reste von Mahlzeiten zu ergattern. Manchmal
stibitze ich ein Weckerl, wenn weder die Bäckerin, noch die Kundin auf den Tresen schauen, wo diese eben platziert worden waren. Am 3. Tag fand ich es aufregend von der ferne zu beobachten, wie
sie sich wunderten, wo das Brötchen geblieben ist. Mittlerweile hat aber ein schwarzes Loch in meinem Herz dazu geführt, dass zum Überfluss diese Freude verschwunden ist. Warum werde ich nicht
gesucht? Wo sind die Angehörigen, die mich vermissen? Eigenartige Überschriften schiessen durch meinen Kopf:
«Alleinreisende in muslimischem Land entführt». Wenn ich doch wenigstens gekidnappt worden wäre. Dabei bin ich hier unter all den Menschen einsamer, als in einem Verlies, in dem mir gleichwohl
manchmal jemand Essen am Boden durch den Türspalt schieben würde. Futter nur für mich von einer Person, die sich wegen mir in den Keller bewegt haben würde. Am ersten und zweiten Tag fragte ich
schier unzählige Kundinnen, wo ein Ausgang sei. Ich bekam immer eine andere Wegbeschreibung:
«Ach, das ist ganz einfach. Durch diesen Hauptgang, an dem kleinen Teeladen vorbei, dann am Gewürzstand abbiegen und schon sehen sie ihn.»
«Nehmen sie die kleinen Gänge hier. 3 mal rechts und sie sind schon da.»
«Tatsächlich ist es verwirrend hier, nicht wahr? All diese unterschiedlichen kleinen Läden. Und doch beginnen sie sich wieder zu gleichen: Viele Seifenverkäufer, einige Plastiklederwarenstände
mit Fake-Designerware, dann wieder Fake-Baumwoll-Designerware. Aber das wollen die Touristen eben. Ach so, ja, der Ausweg: Hier durch den Gang mit den Stoffen, dann links, dann am toten Lammkopf
vorbei und schon sehen sie den Himmel.»
Sogar Begleitung wurde mir angeboten:
«Kommen Sie, ich muss ja auch wieder raus hier. Viel zu viel kaufe ich sonst ein. So habe ich wenigstens einen Grund hier raus zu kommen.»
An einem der wenigen Geschäfte mit traditionellen arabischen Kleidern und Tüchern blieb sie stehen:
«Ach wie schön! Schauen Sie nur? All die bunten, langen Kopftücher! Meine Grossmutter steht besonders auf die glitzernden Portüren da an den Rändern.»
Dabei zeigte sie auf aufwändig mit kleinen Silbersteinchen und Münzchen bestickte Schals, die in allen Farben schillerten.
«Bitte seien Sie mir nicht böse, aber da hole ich doch noch ein Geschenk für sie. Sie wird in Kürze 80 und sicherlich freut sie sich. Sie hat immer noch so viele Haare, obwohl sie inzwischen
schlohweiss sind. Sie hasst diese modischen Dinger, in denen sie sie nicht unterbringt. Ausserdem schwitzt sie in dem Poyester-Zeugs. Das hier ist Seide. Aber genug: Sehen sie?»
Sie streckte ihren Finger zu den Sonnenstrahlen, die den aufgewirbelten Staub in Streifen sichtbar machten.
«Dort kommen Sie raus.»
Ich bedankte mich und stürmte los. Die Strahlen kamen von einem Fenster. Eines der wenigen, das makellos aussieht hier. Es ist so weit oben, dass es unerreichbar ist. Als alle Leute den Bazar
verlassen hatten, bin ich dann nochmal dorthin, um einen Weg zu finden, um hinaufzuklettern. Keine Chance. Zu glatt sind die Fliesen, die die Wand herum verzieren. Vorher schlenderte ich zu dem
traditionellen Laden zurück, ich hätte mich dafür umbringen können, weil ich nicht auf die Frau gewartet hatte. Sie war weg.
Verzweiflung macht sich breit. Soll ich wieder anfangen nach dem Weg zu fragen? Das schein so logisch, so banal. Weil dies gescheitert war, folgte ich im Anschluss den Leuten. Wie eine Spionin
bin ich nachgefolgt. Die mussten ja früher oder später mit ihren Einkäufen nach Hause. Die Gesamtheit verschwand. Hinter den Käsetheken, den Baklavas, den Schuhen. «Alles klar!», so überlegte
ich, die Ladenbesitzer schlafen hier ja nicht. Hinterher. Tja: Denkste! Die haben Hinterausgänge oder sind so misstrauisch, dass sie erst verschwinden, wenn sie genau kontrolliert haben, dass sie
nicht beobachtet werden, ihnen kein Schwanz folgt.
Ich bin am Ende meiner Weisheit. Kraftlos lege ich mich wieder auf mein neues Plätzchen hinter dem Container. Mir fällt etwas ein. Meditation, Schlaf.
Nach weiteren 4 Wochen sehe ich ein, es bleibt mir nichts übrig, als zu begreifen, dass ich hier verschollen bin. Ein Schicksal im Bazar. Neue Kleidung besorgte ich mir. Leute lassen hochwertige,
alte, frisch gewaschene Sachen liegen, nachdem sie sich neu eingekleidet haben. Seifen werden fallen gelassen, sodass ich mich waschen kann, an Kaffee komme ich. Nur Ausweg gibt es keinen.
Einbruch: zwecklos. Nicht mal Polizei wird geholt, wenn offensichtlich ein Laden gewaltsam geöffnet wird. Schreien: Ignoranz ernte ich. Freundlichkeit: Wird mit gefälliger Oberflächlichkeit
beantwortet. Die Wahrheit: Unglaube, mitleidiges Lächeln, Distanz. Der Rest meines Lebens im Shoppingparadies.
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