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Das Klassenzimmer

Das meistens lichtdurchflutete Klassenzimmer ist düster. Der Bodennebel des frischen Oktobertages zieht über den letzten Stock, des, durch den Standort leicht am Hang, so hoch wirkenden, eisenfarbenen Betonklotzes mit seinen 4 Stockwerken. Durch das Fenster, durch das sonst die gegenüberliegenden Wohnhäuser mit seinen Vorgärten zu sehen sind, dringt feuchte, frische Luft der grau-weissen Suppe, die die Konzentration steigert. Vom dreihundert Meter weit entfernten Bahnhof dringen quietschende Bremsgeräusche der einfahrenden S-Bahnen. Die jungen, erwachsenen Schülerinnen, welche sich freiwillig fortbilden, beenden ihre Gespräche flott, als der Direktor hereinkommt. Er hatte sich angekündigt, wird die Lehrperson bewerten. Seit Jahrzehnten sorgt er bei jeder Gelegenheit für seine eigene Unbeliebtheit. Sein patriarchaler, militärisch-autoritärer Führungsstil aus dem 18. Jahrhundert, hat dazu geführt, dass er mit zweifelhaften Methoden Mitarbeiterinnen und Schülerinnen zum Schweigen bringt, um sich in seine, in 2 Jahren fällige Pension mit reinem Ruf zu retten. Die Lehrerin, nennen wir sie aus Datenschutzgründen Frau Müller, erwartet ihn mit feuchten Händen. Ihre aufgekratzte Art zeugt von ihrer Nervosität. Dies ist wenigstens die Klasse, die ihre professionelle Arbeit zu schätzen weiss. Die Bewertung fällt daher hoffentlich weniger destruktiv aus. Sie ist vorbereitet. Während er erst mal die Ansprache hält, schweift sie gedanklich ab. Die Schülerinnen sitzen bereit da, die Vorbereitungen der letzten Monate durchzuführen: Die Lernenden sind dazu angehalten, sich politisch zu bilden, lernen die Demokratie, in der sie leben, Schätzen zu wissen. Eine glorreiche Idee, so fand sie, das Experiment des Romans «die Welle»* nachzuahmen, zumal sie so 2 Fliegen mit einer Klappe erwischen würde.
Der Schulleiter setzt sich in die letzte Reihe und packt seinen Bleistift aus. Damit befüllt er das vorgefertigte Formular und passt es beliebig an, nachdem es von der Beurteilten unterschrieben sein wird. Dazu berechtigt ihn, neben seiner, durch die Gesellschaft aufgrund von Geschlecht und Alter verliehenen Autorität seine Methode der Unterwürfigkeit durch Angst und Kontrolle. Letztere behält er unter anderem durch das Durchwühlen der Computerdaten seiner Mitarbeitenden.
Der jüngste Kursteilnehmende, Nils, tritt hinter ihn. Der einzige ältere Herr im Raum dreht sich um, zieht die linke Augenbraue nach oben. Er zeigt aber Entspannung, indem er seine Füsse, mit gestrickten, roten Wollsocken und kaputten Adiletten bestückt, unter dem Tisch vor streckt, während Nils andeutet, sich ein Buch aus dem Schrank zu holen und ihn dabei anlächelt. Mit Waffen im Unterricht rechnet er nicht, zumal dies hier am Land in seinem Betrieb noch nie, auch nur andeutungsweise vorgekommen ist. Er macht sich Gedanken, wie er durch den Rauswurf dieser relativ neuen Kollegin ein Exempel für andere statuieren wird. Eine Routinesache, daher verscheucht er alle Bedenken gleich wieder.
Aus dem Nebenraum sind Schleifgeräusche zu vernehmen: das Aneinanderreiben von weichem, schwerem Material über den Boden. Die restlichen, verbliebenen Kommilitonen lenken durch Gehüstel und Stuhlgerucke davon ab. Es funktioniert. Ohnehin strahlt der Herr überschäumende Selbstsicherheit aus.
Das Zeichen, dass die Luft im Gang rein ist, kommt an. Jetzt geht es los: Blitzschnell wird der Direktor von hinten mit einem Tafelputztuch geknebelt. Mit einem Ruck wird er an den Füssen von der Person vorne unter seinen Tisch gezogen. Hart kommt sein Kopf, mit 2 mm kurzen, grauen Haaren, welche nur am Hinterkopf einen Kranz bilden, auf der Stuhlkante auf, sodass er durch seine plötzliche Bewusstlosigkeit keinen verräterischen Laut mehr von sich geben wird. In diesen wenigen Sekunden hat er es geschafft, einen äusserst stechenden, süsslich-sauren Angstschweissgestank im Raum zu verbreiten. Zu hören waren nur das Schiebegeräusch des Stuhles und sein gedämpftes Jammern. Die Schülerinnen, die keiner Rolle zugeteilt sind, sitzen nach wie vor still an ihren Plätzen und verfolgen den Verlauf des Projektes. Der schlaffe Körper mit Bierbauch, der in einem T-Shirt mit Fettflecken und einer grauen, fusseligen Wollhose steckt, wird in den Nebenraum getragen. Präzise überträgt die Gruppe im Team, was sie der Theorie der Fleischerei entnommen hat. Die Vakuumiermaschine kommt zum Einsatz, um den Transport der Einzelteile des Schulleiters optimal zu ermöglichen. An diesem Wochentag haben die Köchinnen keinen Unterricht und so werden die Säcke mit einem Wagen, der aus der IT-Abteilung geliehen worden war, in die Grossküche verschafft, wo er zu Hackfleisch verarbeitet wird. Die Knochen werden entstellt und zerkleinert.
Am Wochenende kommt Frau Müller am Haustierzubehörladen vorbei, welcher neuartige Knabberknochen geliefert bekommen hat. Am Bauernmarkt gibt es scharf gewürzte, lokale Frikadellen zum Spottpreis. Ach wie gerne würde sie ihre Projektidee zum Wohle aller umsetzen.


*(https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Welle_(2008))

 

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