Zum wiederholten Male sass sie im Zug. Diesmal würde sie einmal weniger umsteigen müssen. Sie mochte diese Strecke. Die Gleise führten an schön gepflegten, grünen Feldern, Flüssen mit glasklarem
Wasser, Seen vorbei und durch Zentren malerischer Kleinstädte, deren moderne Architektur sich sorgfältig in die gut erhaltenen, alten Häuser verschiedenster Epochen hinein fügte. Sie konnte es
einrichten, dass sie zu einer Uhrzeit fuhr, in der sie der Massenwanderung anderer Pendlerinnen aus dem Weg gehen und einen guten Platz in einem bequemen Wagon finden konnte. Auf diese Weise
konnte sie sich konzentrieren, die Zeit nützen, einiges abarbeiten und dabei die vorbeiziehende Aussicht geniessen.
An diesem Tag war es unausweichlich sich am zweiten Streckenabschnitt unter die Leute zu mengen. Neben ihr hatte ein Herr nach dem Umsteigen Platz genommen. Viel Platz. Er musste mindestens 200
Kilogramm auf die Waage bringen. Seine Ernährungsgewohnheiten liessen sich durch den Geruch, der aus seinen feuchten, offenen Poren drang, erahnen. Sie verzog sich so weit wie möglich in ihre
Ecke am Fensterplatz zurück. Dennoch gab es kein Entkommen. Es war nicht mehr daran zu denken am Tablett zu tippen, geschweige denn sich zu fokussieren, während sich der Talg und die Feuchtigkeit
des neuen Nachbarn langsam auf ihrem Blazer absetzte. Sie versuchte sich geistig aus der Umgebung zu klinken, und begann sich auf das bevorstehende Gespräch zu konzentrieren. Während Reize von
Musik aus den billigen Kopfhörern des pickelgesichtigen Jugendlichen gegenüber von ihr dessen Geräusche wie verstimmte Geigen ein Stechen auf ihrem Nacken erzeugten, verzweifeltes Babygeschrei
vom unteren Stockwerk des Nahverkehrwagons ihr natürliches Helfersyndrom unbefriedigt liessen, das Quietschen der rostigen Räder in den Kurven ein Sausen in ihren Ohren verursachten, schloss sie
die Augen, um dieser Wirklichkeit zu entkommen. Sie bemühte sich, an Schönes zu denken, ihre Gedanken zu beruhigen, abzuschalten. Als sie die Sehorgane wieder öffnete, weil sich durch die
bevorstehende Haltestelle Unruhe in der Menschenmenge breit machte, waren sie durch den Tunnel gefahren und hatten den sonnigen Tag hinter sich gelassen. Hier in diesem Tal, das sich nach der
düsteren, von Menschenhand geschaffenen Röhre auftat, war der Nebel vom unten gelegenen, weiten Fluss aufgezogen und kündigte ein Abkühlen mit der hereinbrechenden Nacht an.
Ein schreckliches Krächzen liess sie hochschrecken. Sie musste eingenickt sein. Die nächsten 2 Sekunden, in denen sie sich sammelte und die Gedanken sortierte, schienen eine halbe Ewigkeit zu
dauern. Es war kein Krächzen, kein Entgleisen, oder sonst eine unmittelbar über sie und die anderen Passagiere einbrechende Katastrophe, sondern der Ton eines Sofortnachrichtenapps. Diesen hatte
sie im Traum, an den sie sich bereits nicht mehr erinnerte, wohl fehlinterpretiert. Die Nachricht bat sie, nach dem Aussteigen einen Zug in die nächste, hinter der Grenze liegende Stadt zu
nehmen. Dort wäre eine Autobahnausfahrt, von der aus der Bahnhof einfach erreichbar sei. Auf diese Art konnte er sie ohne Umwege gleich von da mitnehmen.
Das Ächzen des Kopfhörers war unerträglich geworden. Mit der scheinbaren körperlichen Fusion mit dem gallertartigen Herrn, der fest im Sitz und an ihr geschmiegt verweilte, schien sich der
Aufenthalt in diesem Wagon eine halbe Ewigkeit hinzuziehen.
An der Haltestelle, an der es galt auszusteigen angekommen, war sie erst orientierungslos. Der Internetempfang war seit der Nachricht entschleunigt, sodass es nicht reichte, um sich Informationen
für den Anschlusszug aus dem Netz zu holen. Sie würde sich altmodisch in der Bahnhofshalle erkundigen. Es stellte sich heraus, dass es eine gewisse Herausforderung war, diese zu finden, da keine
Schilder darauf hinwiesen, wo die Wege jeweils hinführten. Sie folgte der Menschenmenge. Erst ging es in die Unterführung, die in früheren Zeiten bessere Tage gesehen haben musste. Am Empfang
angekommen, stellte sie fest, dass die Erkundigung unmöglich war. Der Herr am Schalter konnte ausschliesslich seine Sprache, die sich nicht mit ihren Fremdsprachenkenntnissen deckten. Er war
desinteressiert. Die Unkenntnis des, von ihr genannten Ortsnamens, der verraten sollte, was sie wollte, war gespielt. Keinen ganzen Augenblick später sah er auf die Uhr und stellte den Weltrekord
auf in der Geschwindigkeit, mit der er reagierte, um die Rollläden seines Kabäuschens runterzulassen, um zu markieren, dass er Feierabend hatte.
Eine elektronische Anzeige, oder sonst einen Bildschirm suchte sie vergeblich. Es muss doch einen Aushang mit den Verbindungen geben! Sie sah keinen. Was sie stattdessen vernahm, war ein düsterer
Korridor. Die alten Neonröhren flackerten. Die Geschäfte in der Eingangshalle waren verbarrikadiert. Ein beissender Wind kam ihr von den Bahnsteigen her entgegen. Er brachte einen stechenden
Geruch von halb eingetrocknetem Urin mit sich. Es war den Obdachlosen der Gang zwischen den Abfahrtsgleisen und der Halle zu ungemütlich geworden. Was nun zu tun war, wusste sie nicht.
Orientierungslos drehte sie den Kopf in alle Richtungen: Sie musste etwas übersehen haben. Es war nichts zu finden: Kein Hinweis, keine Idee. Die herkömmlichen Strategien waren erschöpft.
Verloren, endgültig verschollen im Bahnhof der unbekannten Ortschaft. Kein Entkommen. Kein Weiterkommen. Ewigkeit.
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