„Wo haben Sie sie denn gefunden?“ Ist der Befragte von der uniformierten, blonden Polizistin in den Mitte-30 Ern, bemüht zu erfahren.
„Im Schlamm der Themse am Stadtrand. Sie wurde dort erst nach ihrer Ermordung hin transportiert, entsorgt, wie es aussieht.“ Dabei macht sie ein Gesicht, das Entsetzen, gemischt mit Ekel verrät.
Er ist erstaunt, zumal sie sich bisher neutral ausgedrückt hat. Sie probiert seine Gedanken durch das genaue Studium seines Benehmens zu lesen.
„Oh.“ Versucht er so wenig Angriffsfläche wie möglich, zu bieten. Dabei mustert sie ihn mit zur Decke gezogener Braue von oben bis unten. Sie sieht einen Kerl vor sich, dessen angeröstete
Hautfarbe nicht von der Sonne kommt, hier in London nicht kommen kann. Die Haut um die Fingernägel ist dunkler, als sie es von ihrem Umfeld gewohnt ist. Seine stechend grünen Augen sind von
dichten Wimpern und gepflegten, wohl geformten Augenbrauen umrahmt. Flott verscheucht sie den Gedanken wieder, dass sich auch Mörder einen Barber-Shop leisten können und fährt fort:
„Ja. Und Sie verraten mir nun, wo Sie gewesen sind zwischen 1:00 Uhr und 6:00 Uhr heute.“
„Im Bett. Alleine.“ Weil dies auf Millionen anderer Menschen in dieser Stadt zutrifft, kommt er nicht auf die Idee, dass ihm diese Antwort schaden könnte.
„Ja sicher. Und vorher waren Sie auf der Party, die in vollem Gange war, und haben diese früher verlassen, obwohl die Stimmung auf Hochtouren war.“ Gelangweilt verdreht sie die Sehorgane. Sie
spricht vor sich hin, sie macht nicht die geringsten Anstalten ihren Kommentar zu vertuschen.
„Sie werden es mir nicht abkaufen, aber … .“
„Sparen Sie sich die Luft!“ Bei ihrem scharfen Ton weiten sich seine Augen:
„Sie?“
„Was meinen Sie?“
„Wo waren Sie letzte Nacht?“
„Werden Sie nicht unverschämt!“
„Hören Sie, ich muss zur Arbeit. Nach Feierabend stehe ich Ihnen zur Verfügung.“
„Sie dürfen das Land, ja nicht mal die Stadt verlassen!“
„Eh keine Zeit!“ Murmelnd und den Kopf schüttelnd kommt dies durch seine Lippen gepresst, wobei sich deren linker Winkel aufwärts zieht.
„Wie bitte?“
„Auf Wiedersehen!“
„Worauf sie Ihren Arsch verwetten können!“
Die nächste auf der Liste ist die Gastgeberin. Sie lebt in einem Bezirk, in dem die Stadt seit Jahrzehnten Sozialwohnungen vermietet. Weil sie dort ein paar Mal mit Verbrechen zu tun hatte, kennt
sie die Gegend und findet daher die zu Befragende in innerhalb kürzester Zeit. Sie ist eine Schönheit: Volles Haar, breite Lippen, wohlgeformte Figur mit einer Brust, die mit mittlerer Grösse
keinen BH vermisst. Ein Umstand, der ihr in ihrer Karriere geholfen hätte, wäre sie nicht karibischen Ursprungs. Ihre Eltern waren mit tausenden anderen in den 1950er-Jahren ins Land geholt
worden, um die Lücke der Arbeitskräfte zu stopfen. Sie hat mit ihrer günstigen Wohnung, aus der sie wenigstens ein bisschen Kapital durch Untervermietung schlägt, Glück, denn Legasthenie, sowie
Lethargie und Pessimismus führen zu kurzfristigen, unterbezahlten Anstellungen.
Die Polizistin ist in der Gegend nicht willkommen und so kommt sie gleich zur Sache:
„Wo sind Sie zwischen 1:00 und 6:00 Uhr heute gewesen?“
„Na klar: Schwarz und automatisch verdächtig! Auf dem Fest. Wo sonst. Sie ist inmitten meines Bezirkes! Wofür brauchen Sie am heutigen Tag wieder einen Sündenbock?“
„Die Party ist gross, gesetzt den Fall, dass es ihnen nicht in Erscheinung getreten ist: 2 Millionen Menschen waren da. Also: Wo genau, mit wem und wann?“
„Falls es IHNEN nicht aufgefallen ist: Der Notting Hill Carneval wird von MEINER Kultur getragen! IHR langweiliges, aggressives, kriegerisches Volk schafft es nicht, viele Leute auf friedliche
Art mit Tanz und Musik zu begeistern!“
„Sie haben die Frage nicht beantwortet!“
„Hören Sie, ich weiss nicht mal, worum es geht. Hat jemand den davongelaufenen Chihuahua der königlichen Familie zertreten? Ich weigere mich also!“
„Es ist ein Mord. Eine Tote. Eine von Ihnen. Genauer: Sie hat bei Ihnen gewohnt.“
„WAS? Aber … da stimmt was nicht. Die, die bei mir ein paar Tage wohnt, ist schneeweiss. Es muss sich um ein Missverständnis handeln.“
„Glauben Sie mir, soweit sind meine Kolleginnen mit ihrer Befragung.“
„Na ja. Mit ihren haselnussbraunen Haaren und ihrer südländisch bräunlichen Haut passt sie nicht zu Ihrer Vorstellung von „arisch“.
„Es ist Jutta.“
„Was? … ABER?“ Flott rennt sie ins Nebenzimmer. Im Gegensatz zu ihrem ist es kein Durchgangszimmer. Sie überprüft, ob dort nicht ihre kurzfristig eingezogene Mitbewohnerin schlummert. Das Bett
ist leer.
„Sagte ich es doch. Und hören Sie mit dem Theater auf! Es muss Ihnen aufgefallen sein, dass sie nicht da ist!“
„Mann, ich habe geschlafen, friedlich. Aber: Tot?“
„Beantworten Sie nun endlich meine Frage?“
„Hä? Ob ich es gewesen bin?“
„Nein, wo sie mit wem ganz genau wann waren.“
„Diese Schnepfe. Jetzt ist sie auch noch tot. Die ist die gleiche Rassistin, wie die anderen.“
„Die Frage?”
“Jaja. Die Antwort wird ihnen gefallen. Ich habe praktisch nie auf die Uhr geschaut; ein bisschen auf Social Media gepostet und so. Die Daten entlasten mich. Ach die Gesichter derer, mit denen
ich zusammen war, finden sie dort.”
“Gut. Sehe ich mir an. Sie wissen ja: In der Stadt bleiben, zur Verfügung stehen!”
“Woher soll ich das wissen?”
“Netflix?”
“Ach da haben sie ihre Bildung her!”
Müde davon, sich wieder eine wenigstens gleich provokante Antwort verbeissen zu müssen, bekommt die Beamte nicht mal eine Verabschiedung heraus und verschwindet, ohne sich umzudrehen.
Die Storys auf Instagram und Facebook führen sie direkt zu einer Schwedin. Diese begrüsst sie freundlich, bietet ihr Kaffee und Wasser an und ist über den Umstand entsetz. Nachdem sie ein paar
üblichen Fragen geschickt ausgewichen ist, dreht sie die Situation um:
“Konnte der exakte Todeszeitpunkt festgestellt werden?”
“Nein, die Forensik arbeitet daran.”
“Gibt es Vermutungen, wer es gewesen sein könnte?”
“Wie immer ist erst jede und niemand verdächtig.”
“Na klar. Haben sie schon Informationen zur Toten?”
“Tut es etwas zur Sache?”
“Na ja, die einen setzen sich Gefahren mehr aus, als andere.”
“Sie werden informiert, wenn wir genaueres wissen und es notwendig erscheint.”
“Alles klar.” Dabei schnappt sie sich flott die leere Kaffeetasse, verdreht sich und ihre Augen in gleichem Masse und begibt sich zügigen Schrittes in die Küche.
“Vielen Dank für Ihre Auskünfte!”
“Danke Ihnen für die wichtige Aufgabe, die Verbrechen in dieser Stadt aufzuklären! Schliesslich möchte ich mich weiterhin gefahrlos fühlen.”
“Ja, sicher. Auf Wiedersehen.”
Sie ist erst mal mit den Antworten zufrieden. Die Wohnung sieht ordentlich aus und ein Motiv ist nicht vorhanden. Eine Sozialarbeiterin ist eher ein friedlicher Mensch. Ihr ebenmässiges Gesicht,
ihre klare Ausdrucksweise lassen auf ein rationales, Gemüt schliessen, das eine Intelligenz besitzt, die es sich von solch einem Verbrechen fernhält.
Der Araber. Aufgrund dessen, dass er keine Frau abkriegt, hat er Grund genug, sich an eine Touristin ran zu machen und weil er eine saubere Weste behalten will, murkst er sie ab.
Nach einer weiteren Befragung erfährt sie Folgendes:
Seine Reaktion liess darauf schliessen, dass er überrascht war, als er erfuhr, wer sie ist. Obwohl er nur bis 2 Uhr nachts bei der Veranstaltung geblieben war, war er müde, weil er unruhig
schlief, dadurch, dass er aus seinem sonst regelmässigen Rhythmus gekommen war. Als Sohn eines arabischen Einwanderers, verheiratet mit dessen Mutter, einer indischen Schönheit, hatte er es weit
gebracht. Daher ist er bedacht darauf, seinen Job zu behalten, und führt ein äusserst redliches Dasein. Seine Eltern waren als ehrenhafte Vorbilder in Sachen Verlässlichkeit, Ehrlichkeit und
Hilfsbereitschaft wesentlich daran beteiligt gewesen.
„Was ist da abgelaufen zwischen ihnen und dem Opfer?“
„Wir hatten uns wohltuend über Lebensphilosophie unterhalten. Die Stimmung war erhebend. Die Musik ebenso. Sie tanzte, wurde von anderen mitgerissen. Das führte dazu, dass eine Tonne aus der
Karibik-Community heranging, mit ihr zu tanzen. Sie stieg darauf ein. Er hat sie berührt, nach dem Motto: „Juhu, lass uns an unseren Ärschen reiben.“ Sie war erst dabei. Er flirtete. Sie
distanzierte sich. Er wurde aufdringlich. Ihr Abstand vergrösserte sich zusätzlich. Diskret grinste sie ihn an, aber sah ihn nicht mehr an.“
„Na und?“
„Naja, er legte los, diabolisch zu schauen. In ihre Richtung. Sie wirkte zwar entspannt, seine Freunde bekamen jedoch Wind von seinem Ärger und zogen einen Kreis um die … oje … das Opfe.“
„Sie kannten sie nicht gut, oder?“
„Nein, hatte sie ein paar Stunden vorher kennengelernt.“
„Und sie meinen, einer von denen war‘s?“
„Nö. Ich habe die Situation deeskalieren lassen können.“
„Ach?“
„Nun, ich habe mit dem Liebeshungrigen begonnen ein bisschen herum zu scherzen. Dann hat er gemeint: „Ja, diese scheiss weissen Schlampen. Die behaupten, wir würden unsere Vorfahren nicht kennen,
aber die kennen nicht mal ihre eigene Mutter!“
„Autsch.“
„Sie hat mit geweiteten Augen hergeschaut und sich noch mehr entfernt. Ich habe ihm auf die Schulter geklopft, ihm recht gegeben und er ist mit seinen Jungs abgezogen.“
“Und was ist mit ihrem Alibi?”
“Wissen sie was?”
“Sie werden es mir gleich sagen: Ich Ausländerfeindin soll mich verpissen?”
“Nein. Was anderes. Sie führen schliesslich nur Anordnungen aus.”
Peinlich berührt dreht sie sich weg. Sofort fährt er freudestrahlend fort:
“Weil ich mies schlafe, hatte ich den Auftrag, meine Schnarchgeräusche aufzunehmen. Der Apparat hat den gesamten Status gespeichert: Start, Länge der Audiodatei, Ende.”
“Alles klar, her damit.”
“Ich will eine Kopie davon, falls ihnen das Gerät abhandenkommt.”
“In Ordnung, aber zeigen sie es mir erst.”
Nachdem sie den gesamten Inhalt gehört und gesehen hat, sieht sie zu, wie kompliziert er mit seinem Smartphone umgeht, als er ihre Kontaktdaten speichert. Er hat die Datei kaum selbst
manipuliert.
“Vielen herzlichen Dank und entschuldigen sie bitte die Umstände!”
“Kein Thema!”
Die Kommissarin macht sich aufbruchfertig, dreht sich kurz vor dem Entschwinden um:
„Könnte es Selbstmord gewesen sein?“
Er schaut sie fragend an, sie fährt fort.
„Na ja, eine labile Frau, die dann einer derartigen Konversation ausgesetzt ist …?“
„Ich kann es mir nicht vorstellen. Dafür hatte sie zu viele Pläne.“
Mit wieder hergestellter Stimmung wird die Verabschiedung freundlich und sie bemerk, wie attraktiv er ist.
Schliesslich gehört die Nachfahrin amerikanischer Sklaven zum engen Kreis ihrer Verdächtigen. Sie lässt sich vom Büro, das sich ihre Profile im Internet vorgenommen hat, einen Bericht geben. Sie
ist sauber. Zwar fragt sie sich, warum die Schönheit derartig verbittert ist, aber in diesem Fall ist sie sicher unschuldig.
Nach einem freien Tag voller Grübeleien, dem anstrengenden Hin-und-Her-Welzen von Informationen, kommt sie auf die schlanke Blondine Skandinaviens zurück. Akkurate, konkrete Auskunft hat sie von
der nicht bekommen und so beschliesst sie, ihr einen weiteren Besuch abzustatten.
Die vierte Frage ist wieder eine Wiederholung vom ersten Mal. Beim vorigen Déjà-vu hat sich die Antwortende bemüht, nicht den dekorativen Samurai-Schwert aus dem Touristenkitschladen des
Japanurlaubes von der Wand zu reissen. Dies hier ist der letzte sprichwörtliche Tropfen. Es äussert sich das Überlaufen:
„So, nun werde ich ihnen mal was flüstern: Bei fehlendem Speichervermögen hilft eines: Aufnahmeknopf. Hören sie auf, meine wertvolle Zeit zu stehlen!“
Sie ist endgültig davon überzeugt, dass das Material der britischen Gummischlagstöcke in engem Zusammenhang mit dem Inhalt der Gehirne ihrer Trägerinnen steht.
„Was hielten sie von der Verstorbenen?“
„Sie war einfach durchschaubar. Rassistin.“
„Wie äusserte sich das?“
„Sie hat behauptet, mit Eritreerinnen zusammengearbeitet zu haben.“
„Und?“
„Diese Schlampen werfen alle in einen Topf: Nigeria, Zentralafrika, Sudan, Südafrika. Alles das gleiche für die.“
„So viel ich weiss, gab es eine Flüchtlingswelle von dort und in ihr Dorf sind ein paar geschickt worden.“
„Kategorisiererei!“
Als ob sie mit einer völlig unterschiedlichen Person wie das letzte Mal sprechen würde: Aufbrausend, ungeduldig, verkrampfter Blick.
„Na gut, aber das macht sie doch noch zu keiner Rassistin.“
„Das ist ja nur die Spitze des Eisberges. Die Klugscheisserin. Hat „Gemeinsamkeiten“ zwischen sich und meiner Freundin herausfiltern wollen und ihr gesagt, sie hätten beide mit den
Vergangenheiten ihrer Familien zu kämpfen. Hat doch glatt die Traumen vom 2. Weltkrieg mit denen der Sklavinnen verglichen!“
„Nun …“
„Ach ständig diese lahmen Erklärungen! Sie hat ihr Kopfhaar anfassen wollen! Ihre Haare! Etwas Heiliges in der Rastafarikultur!“
„Aber…“
„Und dann hat sie, ach, immerwährend und immer wieder die gleiche Scheisse, nach dem UV-Erythem gefragt! Dem SONNENBRAND! Mann. Oh ja, die Haut ist wohl radikal anders beschaffen. Die paar
Pigmente führen zu vollkommenem Schutz! Wirklich aufgelöst ist sie zu mir gekommen, wusste nicht, was tun und wie sie die neue Besucherin loswerden könne. Sie hatte freilich die Mieteinnahmen gut
brauchen können. Aber das war ja nicht auszuhalten! Die hat das komplett ausgenützt! Sich günstig ausgebreitet! Die wusste doch ganz genau, dass es in London kein weiteres Zimmer um den Preis
geben würde. Diese Kuh. Hat gestern noch rumgeflirtet. Die Community total durcheinandergebracht. Hat sogar meinen Bekannten, den Mustafa beschäftigt. Wissen sie, hätte man der Nazischlange früh
genug den Kopf abgeschlagen, was glauben sie, wie viele Millionen Menschen man retten hätte können! Ha! Eine Schlange weniger. Meine Freundin, Partnerin sollte sie werden. Die afrikanische
Schönheit. Aber nein, da kommt diese mediterrane Zicke und bringt die ganze Harmonie ins Wanken. Das Miststück hat auch noch … .“
Während sie sich weiter in Rage redet, schafft die Gesetzeshüterin einen Anruf, um Verstärkung zu holen.
Virtueller Hut: Du förderts so die Schreibkunst:
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