Seine Knie sind wund. Sie brennen und schmerzen, sodass er es nicht mehr schafft, sich von ihnen wieder aufzurichten. Er hatte sich vor ca. 1 ½ Stunden auf sie fallen lassen, als ihm begann, die
Dimension seiner Tat annähernd bewusst zu werden. Zu vernehmen ist, ausser des hallenden Geräusches von klappernden Damenabsätzen auf den, mit alten Steinfliessen bestücktem Kirchenboden nur
Stille. Die Frau verlässt nach 5 Minuten, in denen sie nichts Verdächtiges bemerkt und nur ein paar Fotos geschossen hat, das Gotteshaus und so ist er flott wieder allein. Zu frösteln hat er
aufgehört, ihm ist die Kälte bis zu seinen Knochen vorgedrungen. Ein bitterer Geschmack ist ihm im gesamten Rachenraum geblieben, nachdem er tagelang aufgrund seiner Nervosität nichts gegessen
hatte. Er starrt aus seinen roten, brennenden Augen.
Wieder schweifen seine Gedanken ab zum Anfang seiner Tat vor ca. 2 Stunden und dem Gespräch, das sie führten:
«Warum wimmern und betteln Sie so? Sie müssten doch ganz genau wissen, was das soll! SIE haben sich das GANZ SELBST eingebrockt!!!»
«Ach Junge. So einfach ist das nicht!»
«Nennen Sie mich nicht ‹Junge›!»
«Junger, in ein paar Wochen volljähriger, gnädiger Herr.»
«Spotten Sie nicht!»
«Was willst Du von mir?»
«Wir sind nicht ‹per du›!»
«Antworte!»
«Was wolltest Du, als Du dafür gesorgt hattest, dass ich meinen Job verlor?»
«Meinen behalten.»
«Bull-Shit!»
«Es ist die Wahrheit. Du hast ja keine Ahnung!»
«Ach ja? Dann kläre mich auf, Klugscheisserin!»
«Ach für Euch sind wir Lehrerinnen immer Korinthenkacker, völlig egal, was wir tun, oder sagen. Jetzt willst Du plötzlich was beigebracht bekommen? Jahrelang alles verweigern, was mit Entwicklung
und lernen zu tun hat und dann, wenn es ernst wird und Dein Leben den Bach runtergeht, willst Du wissen warum?»
«DEINES ist gleich aus. Es geht nicht einfach nur langsam den Bach runter! Es wird gleich ZU ENDE sein!!!»
«Na gut Jungchen. Dann lass mich meine Bildungsmission wenigstens annähernd erfüllen. Ich werde Dir erzählen, was los war.»
«Da es eh nicht darauf ankommt, die Kirche überall ohnehin niemanden interessiert, denke ich, ich gewähre Ihnen ihre letzten Sätze.»
«Vielen Dank auch!» Zu Ihrem Zynismus mischte sich Traurigkeit, aber zudem eine Art Erleichterung. Faktisch war ihr Leben in den vergangenen Jahren nach Mobbingattacken und der daraus
resultierenden Ausfälle aufgrund von schwerster Depression ein einziger Scherbenhaufen. Ihre halbherzigen Selbstmordversuche waren ihr nicht geglückt und so war es hilfreich, wenn jemand
nachhalf. Ihr wichtigster Lebensinhalt, Menschen zu einer stärkeren, intelligenteren Persönlichkeit und vielversprechenden Zukunft zu verhelfen, war lange häufig ins Lächerliche gezogen, in den
Dreck geworfen worden. Verwirklichung von friedlichen Ideen waren schon vor Jahren zur Utopie verkommen.
«Na dann, schiess los, Alte!»
Von unten kuckte sie nach oben, zog die linke Augenbraue hoch, als ihr ihr Erscheinungsbild durch den Kopf spukte: eine akzeptabel erhaltene, brünette, unscheinbare Mitte-Vierzigerin,
schmucklose, schwarze, bescheidene Klamotten. Die Hornbrille verhalf zusätzlich zu ihrer fahlen, weissen Haut zum «Graue-Maus-Look». Aber alt? Seniorinnen, so hatte sie in glücklicheren Tagen mal
eingeschätzt, seien die grösste Zielgruppe der Kirche. Sie würden diese Gemeinschaft aufrecht erhalten. Sie stellte fest, dass es in den letzten Monaten der einzige Zufluchtsort für sie war. Hier
wurde sie gehört, hier nahm man ihre Persönlichkeit an, minus sie zu verurteilen, ohne sie zu beneiden. Sie entkam dem psychischen Druck in der traditionellen Verbindung, was sie zu schätzen
wusste.
«Transparente Notengebung ist im System nicht gewünscht.»
«Was faselst Du da?»
«Du wolltest doch Bescheid wissen, warum Du nicht wieder mit einer positiven Note durchgekommen bist?»
«Nett ausgedrückt. Mein Leben hast Du ruiniert!»
«Du meinst, die Jahrzehnte, die Du noch vor Dir hast, sind durch eine einzige Zahl und einen 4-wöchigen Ferienjob, den Du nicht machen musst, derart ins Wanken geraten?»
«Ich stelle die Fragen.»
«Na gut, Freundchen. Der Frieden wollte, dass wir, also ich und Kolleginnen, immer die Zahlen so drehten, dass ihr durchkommt. Laut Lehrplan wärt ihr, also Du und noch 7 andere aus deiner Klasse,
schon vor 2 Jahren rausgefallen aus dem System. Nun kam es aber, dass wir keinen Bock auf die Anwältinnen Eurer Eltern hatten und auch nicht auf Sonderkonferenzen, die es dann immer nach sich
zieht. Irgendwie, für mich nicht nachvollziehbar wie, kam deine potentielle Arbeitgeberin dahinter. Sie hat interpretiert, dass Ihr durch Betrug, oder Erpressung durchgekommen seid. Ihr war es
zwar grundsätzlich egal, weil aber der Sohn des Geschäftsführers in Eurem alter ist, äusserst fleissig ist und daher sehr berechtigterweise gute Noten hat, hat er sich ungerecht behandelt
gefühlt. Er hatte ein Gespräch seines Erzeugers mitbekommen, sonst hätte er nichts davon gewusst. Das Söhnchen wollte die finanzielle Macht seines Dads eingesetzt wissen und Gerechtigkeit. Der
Vater handelte ihn soweit hinunter, dass es eben nur um den Verlust dieses Ferialjobs ging.»
«NUR. Hexe! Damit sollte der Urlaub finanziert werden. Ich hatte meiner neuen Freundin versprochen mitzukommen. Sie fährt nun mit anderen Jungs, ist enttäuscht, höchstwahrscheinlich ist unsere
Beziehung zu Ende.»
«Dann war es wohl nicht die Richtige!»
Laut schreiend reagierte er:
«NICHT DIE RICHTIGE? Das wäre alles nicht passiert, hätte ich positiv abschliessen können.»
«Falsch. Der Chef Deines «ach-so-wichtigen» Jobs hat die Note nur als Ausrede vorgeschoben.»
Wutentbrannt stiess er nach diesem Satz den Stuhl um, auf den er seine Lehrerin platziert hatte, nachdem er ihr die, an einem Balken eines Seitenschiffes befestigten Seil, um ihren Hals gelegt
hatte. Er sah ihr zu, wie sie blau anlief, hörte, wie sie röchelte, roch ihren sauren Angstschweiss und vernahm, wie ihre Zehen beim anfänglichen Hin- und Herpendeln auf seine Oberschenkel
stiessen. Er war fasziniert von dem Anblick, genoss, dass sie litt. Erst als sie keinen Ton mehr von sich gab, wurde ihm klar, dass ihre Argumente stichhaltig sein könnten.
Schnell stellte er, den Stuhl wieder hin, sie neben sich, öffnete die Schlinge, legte sie behutsam auf den Boden und setzte alles, was er beim Erste-Hilfe-Kurs für seinen Mopedschein vor kurzem
gelernt hatte, um. Völlig erschöpft liess er sich nach 20 Minuten auf dem Grund nieder. Knapp darauf kniete er sich auf diesen Vorderteil der Bank.
Virtueller Hut: Du förderts so die Schreibkunst:
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