Es ist so weit: Sie kreisen mich ein. Von allen Seiten. Überall sind sie. Ich habe keine Chance zu entkommen. Meine Sehwerkzeuge sind aufgerissen. Flott bewegen sich die Pupillen vom rechten
Winkel dieses Auges zum anderen Bereich desselben. Die Beine sind in Abwehrhaltung gegrätscht, die Knie abgebogen. Meine Arme habe ich zur Körperaussenseite gestreckt, meine Gesichtszüge sind
verkrampft. Es scheint ein auswegloser Umstand zu sein. Nichts kann ich machen. Renne ich vorwärts davon, erwischen sie mich, in alle anderen Richtungen ebenso. Ich drehe mich zur linken Seite,
sodass ich sehen kann, ob hinter mir jemand steht. Ebenfalls kein Fluchtweg.
Kalter Schweiss drückt durch meine Poren. Langsam spüre ich ein Zittern, das mit jeder Sekunde stärker wird. Furcht. So fühlt sie sich an. Die pure Angst. Hilflos fühle ich mich, versteinert und
ausgeliefert. Ich höre auf zu atmen. Dies muss eine unbewusste Strategie sein. Als würde ich dadurch unsichtbar. Wenn mich niemand hört, sieht mich niemand. Vernunftwidrig, das weiss ich.
Unlogisch ist es zudem zu schwitzen und gleichzeitig zu frieren.
Ich bekomme keine Luft mehr. Ein Schwindelgefühl setzt ein. Der Sauerstoffmangel macht mich kraftlos. Meine Beine wackeln, sie werden wie Gummi, geben nach. Ich falle.
Bevor ich den Boden berühre, wache ich schweissgebadet auf. Hastig nehme ich einen tiefen Atemzug und meine bisher angespannten Muskeln erschlaffen. Gott sei Dank. Ich befinde mich sicher im
Bett. Die Decke stülpe ich vom schweissnassen Körper. Hierbei drehe ich mich zur Seite, um auf den Wecker zu sehen: Es ist zu früh zum Aufstehen. Zu spät, um nochmal ordentlich zu schlafen. Ich
bleibe wach liegen. Einiges geht mir dabei durch den Kopf. Ich muss bald raus, um den Bus und die S-Bahn zu erreichen, damit ich pünktlich zum Arbeitsplatz kann. Eine Arbeit, die mir gefiel, bis
der Chef uns dieser Gefahr aussetzte. Warum sind wir verpflichtet, bei so grossem Risiko wegen ein paar Mücken in einen Laden, der noch dazu unnützes Zeug verkauft? Klar mochte ich unsere Waren
früher. Sie sind wunderbar bunt und versüssen das Dasein. Ich fand es faszinierend, dass ich Einkünfte von etwas bezog, das für die Erdbewohnerinnen unbrauchbar ist. Jetzt riskiere ich mein Leben
dafür. Ich sinniere ewig vor mich hin. So lange, dass es Zeit wird aufzustehen. Keine Zeit mehr nachzudenken, keine Zeit für eine Lösung.
Zu den Stosszeiten ist einiges los. Die Leute drängen sich mit ihren Masken in die Verkehrsmittel. Ich habe Angst. Der Job geht los. Das winzige Geschäft ist eng, die Türen werden offen gehalten,
damit ausgiebig durchgelüftet werden kann. Mein Job ist es, den Mitbürgerinnen, die von unseren bunten Produkten angelockt werden, zu erklären, wie dringend sie die Sache brauchen, die sie immer
und immer wieder ansehen. Früh am Morgen hetzen erst alle zur Arbeit. Weil Samstag ist, geht es am Vormittag mit gelangweilten Menschen los. Eine Kundin steht am Eingang. Sie fixiert uns
Verkäuferinnen. Sicherlich will sie etwas kaufen. Ich kann sehen, wie sie im Geiste Sachen aussucht. Ich möchte zu ihr hin, kurz bin ich durch die Müdigkeit und die Gedanken an den Albtraum von
heute Nacht abgelenkt. Ich zögere, habe keine Lust, habe Angst. Da meine Kolleginnen mit anderen Kundinnen beschäftigt sind, gehe ich auf sie zu. Ihre Augen verraten, dass sie eine Beratung
wünscht. Ich frage sie nach ihren Wünschen, sie antwortet mit dem Hinweis, sie bräuchte in diesen Tagen mehr.
«Pha, ‘brauchen’», geht es mir durch den Kopf und versuche, ein Verkäuferinnenlächeln aufzusetzen. Sie beginnt zu erklären, was sie sonst gekauft hat und mit was sie zufrieden war und womit
nicht.
Irgendetwas passt mir an der nicht. Etwas ist komisch.
Plötzlich realisiere ich es. Mir fällt es wie Schuppen von den Augen. Warum brauche ich heute so lange? Während der nächtlichen Phantasien war es auch so: Ich war in diese beklemmende Situation
gekommen, weil ich nicht konzentriert genug gewesen war. Ich hatte nicht aufgepasst. Nun ist es erneut so. Die Vorstellung war eine Warnung. Ohne die Vision wäre ich ja nicht derartig müde und
unkonzentriert. Nein. Es ist mein Chef. Dieses gierige Schwein ist an allem schuld. Ich fühle mich wieder wie im Traum. Nur diesmal ist es Wirklichkeit. Es ist zu spät. Ich sehe die Dame an und
realisiere meine missliche Lage, meine Lebensgefahr:
Sie trägt einen dicken Schal, anstatt einer Maske über Mund und Nase.
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